Big Data und Internettechnologien können bei der Gestaltung eines humanen und trotzdem bezahlbaren Gesundheitssystems wichtig werden. Bei der Ausgestaltung der Technologien muss der Mensch im Mittelpunkt bleiben. Ein dezentraler Ansatz und digitale Souveränität der Benutzer sind entscheidend für den Erfolg. Wir sind dafür verantwortlich, diese Designkriterien beim Interneteinsatz im Gesundheitswesen zu fordern und fördern.

Hilft Big Data meiner Gesundheit?

Unter dem Titel „Dr. Supercomputer“ berichtete Kathrin Werner in der SZ von neuen Entwicklungen auf der CES 2016 in Las Vegas, USA zum Thema Gesundheit und Big Data (Kathrin Werner: Doktor Supercomputer; in: Süddeutsche Zeitung, #9, 2016-01-13; http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/digitale-gesundheit-doktor-supercomputer-1.2814450?reduced=true, abgerufen: 2016-01-18, 14:30 UTC). Dabei hat sich wieder einmal bestätigt, dass Entwicklungen immer aus ihrer technischen Machbarkeit entstehen und dann, ob sinnvoll oder nicht, mit einer glücksverheißenden Vision verkauft werden. Dazu passt auch der Bericht mit dem Titel „Wer jetzt noch Visionen hat, sollte zum Arzt gegen“ von der DLD (Digital Life Design) 2016 in München (Andrian Kreye: Wer jetzt noch Visionen hat, sollte zum Arzt gehen; in: Süddeutsche Zeitung, #14, 2016-01-19).

Die heute verfügbare und sich weiter entwickelnde Sensortechnologie in Verbindung mit neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (hohe Leistungsfähigkeit von Smartphones, Big Data, Netzabdeckung und –geschwindigkeit) bietet enorme Möglichkeiten, Menschen in vielen Krankheitssituationen zu helfen. Ein paar Beispiele sollen dies verdeutlichen:

  • Diabetes ist weiter auf dem Vormarsch - nach Bild der Wissenschaft: „Diabetes weiter auf dem Vormarsch“; (in http://www.wissenschaft.de/home/-/journal_content/56/12054/938205/, abgerufen 2016-01-19, 17:34 UTC), sind derzeit ca. 350 Millionen Menschen weltweit daran erkrankt. Durch kontinuierliche Glukosemessung (alle 5 Minuten erfasst ein Sensor den Glukosewert) können Zuckerschocks (akuter Unterzucker) weitgehend vermieden und der Insulinspiegel kann wesentlich genauer über den Tag eingestellt werden. Mit dem Watson-System erwartet IBM, aufgrund von millionenfach erfassten Daten der Lebens- und Essgewohnheiten und der Physis von Diabetikern, einen möglichen Glukoseschock bis zu drei Stunden im Voraus vorhersagen zu können.
  • Prostatakrebs ist die zweithäufigste Krebsart bei Männern – die WHO schätzt für Europa 420 Neudiagnosen je 100.000 Einwohner für 2012 (in: http://globocan.iarc.fr/Pages/fact_sheets_cancer.aspx; abgerufen: 2016-02-21, 16:00 UTC). Die möglichen Behandlungsmethoden haben aber starken Einfluss auf die Lebensqualität von positiv diagnostizierten Männern. Sie sind unter anderem von der erkannten Krebsform, der persönlichen Situation, der Partnersituation und der statistischen Lebenserwartung abhängig. Es ist zu vermuten, dass durch die Erfassung der entsprechenden Daten einer großen Anzahl von Männern, insbesondere vor der Erstbehandlung, sehr viel präziser eine optimale Behandlungsmethode vorgeschlagen werden könnte, als es heute der Fall ist.
  • Hilfe für ältere Menschen – es ist eine Binsenweisheit, dass in vielen Ländern (u.a. europäische Länder, USA, Japan) die Bevölkerung im Mittel immer älter wird (siehe z.B. für Deutschland: http://m.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61541/altersstruktur; abgerufen: 2016-02-21, 16:19 UTC). Dadurch steigen gleichzeitig die Anforderungen an eine optimale Betreuung im Fall von Krankheit oder körperlichen oder geistigen Einschränkungen zu vertretbaren Kosten. Roboter (im weitesten Sinn) sind das Mittel der Wahl. Ihr Einsatz bedingt die gleichzeitige kontinuierliche elektronische Betreuung (Datenerfassung) der Personen. Aus Dave Eggers Buch „The Circle“ (Penguin Books, London, 2014; ISBN: 978-0-241-14650-7) wissen wir, wie schnell die Balance von positiver Betreuung zu negativer Überwachung kippen kann.

Gemeinsam ist allen Lösungskonzepten eine a priori hilfreiche Funktionalität, die vermutlich Leben retten oder verbessern kann, und die gleichzeitig zu Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen führt. Die heutigen technischen Lösungen basieren auf der zentralen Erfassung und Auswertung der relevanten Daten und nutzen nicht die Vorteile einer dezentralen, lokalen Verarbeitung. Im Stromsektor sehen wir gerade den umgekehrten Trend, weg von zentralen Großkraftwerken hin zur dezentralen Erzeugung und Nutzung von Energie! Die Einbindung der Nutzer als Eigentümer der Daten wird generell außer Acht gelassen und regulatorische Maßnahmen betrachten heute nicht die Anforderungen, die sich aus dem Konzept der Datensouveränität ergeben.

Was sind die Konsequenzen? Alle technischen Neuerungen ablehnen und als Bilderstürmer verteufelt werden? Oder als Technikgläubiger jede technische Mode kritiklos annehmen, die vermutlich dem Datengeschäft der großen Internetfirmen in die Hände spielt?

Optimal: Dezentrale Strukturen vermeiden Datenmissbrauch

Unter Nutzung der vorhandenen technischen Möglichkeiten sind Lösungen machbar, die sowohl die funktionalen Anforderungen zur Gesundheitsvorsorge als auch die Souveränitätsanforderungen bezüglich der verwendeten Daten berücksichtigen. Wie könnten dann Lösungen für die obigen Beispiele aussehen?

  • Die Vorhersage von Glukoseschocks kann, bei entsprechender Parametrisierung, jederzeit von einem kleinen, am Körper getragenen Gerät übernommen werden. Eine Identifikation des Benutzers ist gar nicht notwendig, da das Gerät dem Benutzer gehört. Im Fall eines sich abzeichnenden Glukoseschocks kann rechtzeitig ein Notsignal an eine Notrufnummer abgesetzt werden, und gleichzeitig kann der Benutzer auf die Gefahr hingewiesen werden. Es liegt in der Entscheidung der Diabetespatienten, ob sie die bei sich gesammelten Daten einem zentralen Analyserechner anonym zur weiteren Verbesserung der Vorhersagen zur Verfügung stellen. Hier könnten sich neue Dienstleistungsfelder (Ärzte, Krankenkassen, Pflegedienste) entwickeln, die dem Patienten helfen und sein Vertrauen haben, entsprechende „Apps“ für passende Endgeräte bereitstellen und für eine Anonymisierung der anfallenden Daten sorgen. Eine Regulierung der Verwendung der angefallenen Daten ist unerlässlich.
  • Die Behandlung von Prostatakrebs kann, bei Vorliegen einer ausreichenden Menge von Falldaten, sehr genau auf die Bedürfnisse des jeweiligen Patienten zugeschnitten werden. Aber dazu reicht es aus, wenn eine statistisch relevante Teilmenge der Patienten ihre vitalen Daten in anonymisierter Form einem Analysesystem zur Verfügung stellt. Eine Identifizierung des einzelnen Patienten ist dazu nicht notwendig. Die Daten müssen auch nicht kontinuierlich über Bodytracker erhoben werden. Eine Vertrauensinstanz (Arzt, Krankenkasse, Pflegedienst) kann bei der Anonymisierung der Daten helfen und gleichzeitig die Validität der zu übertragenden Daten gewährleisten. Durch Auswertungen der anonymisierten Daten können geeignete Behandlungsstrategien in Zusammenarbeit von Arzt und Patient und unter Berücksichtigung der aktuellen Patientensituation entwickelt werden. Dies kann lokal geschehen. Bezüglich der Kosten könnte der Zugang zu den Auswertungsergebnissen mit der Bereitstellung von Daten (anonym!) verrechnet werden.
  • Auch die Hilfe für ältere Menschen lässt sich durch Kombination von lokalen, von den Menschen kontrollierten Geräten und zentralen Analyse- und Steuerungsverfahren lösen, bei gleichzeitiger Wahrung der Datensouveränität der einzelnen Personen. Dazu bedarf es lediglich eines lokalen Gerätes, das durch ausreichende Parametrisierung (in der Welt der künstlichen Intelligenz würde man sagen „durch Lernen“) auf die jeweiligen Bedürfnisse der zu betreuenden Person zugeschnitten ist. In einer erkannten Notsituation kann schnell und flexibel ein Notruf abgesetzt werden. Dazu ist kein zentraler, allwissender „Circle“ notwendig, der jeden Schritt des oder der betroffenen Person überwacht! Das Individuum behält die Kontrolle über sich und seine Daten.

Was zeichnet die beschriebenen Lösungen aus? Es ist die Verbindung lokaler, unter Kontrolle einer Person eingesetzter intelligenter Geräte und ihre (anonyme) Parametrisierung durch zentrale Big Data Systeme. Big Data Systeme entwickeln aufgrund einer immens großen (und wachsenden) Anzahl von Testsamples Entscheidungsstrategien und stellen sie den einzelnen Benutzern zur Verfügung. Darüber hinaus hat dieser Ansatz aber auch noch viele weitere Vorteile gegenüber heute verfolgten zentralen Lösungsansätzen a la Google oder Facebook:

  • Die Kontrolle (über Daten und Geräte) bleibt bei der einzelnen Person, die damit auch ihre Datensouveränität wahrt.
  • Die lokale Komponente lässt sich sehr leicht an- und abschalten.
  • Es entsteht eine Vielzahl von Dienstleistungsmöglichkeiten, die nah beim Menschen und seinen Bedürfnissen arbeiten.
  • Die Gefahr von Hackerangriffen auf zentrale Infrastrukturen wird minimiert (anonyme Daten = uninteressant), die Auswirkungen auf die beteiligten Personen sind nahe Null.
  • Die dezentralen Strukturen gerade der europäischen Wirtschaft werden gestärkt und können Vorbild für andere Teile der Welt werden.
  • Durch die Nähe zum „Kunden“ erhalten kleine und mittelständische Betriebe Wettbewerbsvorteile gegenüber den großen Internetkonzernen.
  • Die Vorteile von Big Data Verfahren durch Nutzung großer, aber anonymer Datenmengen bleiben gewahrt.

Wir haben damit gezeigt, dass sich Datensouveränität und intelligente Geschäftsmöglichkeiten im Internet ergänzen. Dazu ist lediglich der intelligente Einsatz bereits vorhandener oder noch kommender technischer Funktionen in den Bereichen Sensorik, Datenanalyse, Big Data, personalisierte Informationstechnik erforderlich. Der Nutzen für die Einzelnen ist klar, aber auch die Gesellschaft insgesamt profitiert. Neue Geschäftsmodelle können sich entwickeln. Gleichzeitig können die Nachteile zentralistischer Strukturen, wie sich heute abzeichnen, beseitigt werden. Worauf warten wir noch?

Und jetzt?

Wie wir bei der Energiewende gesehen haben, sind dezentrale Strukturen kein Selbstläufer, sondern erfordern zielgerichtetes und konzertiertes Vorgehen Vieler. Dazu gehört die Diskussion mit den politisch Verantwortlichen in den Parteien, um klar Stellung gegen den Datenmissbrauch durch internationale Großkonzerne zu beziehen. Außerdem müssen Benutzerinteressen deutlich gemacht werden: Verbesserungen im Gesundheitswesen mit Hilfe neuer Technologien, aber ohne die Anhäufung von persönlichsten Informationen in monopolartigen Firmenstrukturen. Drittens sollten wir aktiv nach Alternativen zu den Angeboten der der Internetmonopole suchen und nutzen (z.B. Apps vertrauenswürdiger Krankenkassen). Und schließlich sollten wir uns endlich bewusst werden, dass die Daten, die wir freiwillig/unbewusst an Google, Facebook und Co geben, mehr wert sind, als ein paar Spiele-Apps auf unseren Smartphones!